Blöde Genies
Wenedikt Jerofejew DIE AUFZEICHNUNGEN EINES PSYCHOPATHEN

Genie und Wahnsinn lägen nah beieinander, wird gesagt. Und es gibt einige Selbstberufene, die in ihrem Schaffen den Mangel an Genialität einsehen und deswegen den Weg dorthin in einer für sie leichter umzusetzenden Verrücktheit suchen. "Diese Durchgeknallten" wird es heißen, und ihre Brüste werden im Stolz schwellen, weil sie dahinter schon "diese Unsterblichen" mitschwingen hören. Außerdem nicht nur ärgerlich, sondern auch und vor allem bescheuert, erst überzuschnappen, wenn man nichts mehr damit anfangen kann wie zum Beispiel Nietzsche. Wer nicht in der Jugend schon ordentlich plemplem ist, wird als Alter nicht mehr lernen, damit zu kokettieren.
" ‚Nein, Wenka, du bist einfach ein Genie! Aber ich verstehe nicht, warum für dich alles komisch ist! [...] Ich verstehe nicht, was für ein Mensch du bist!' - Ich bin in erster Linie ein Psychopath.", schreibt Wenedikt Jerofejew und mit "Wenka" redet er von sich. Jener hat auch hier zu Lande ein bisschen Kultstatus erreicht durch sein Poem DIE REISE NACH PETUSCHKI. Es schildert eine Zugfahrt von Moskau in den Vorort Petuschki, während der der Protagonist sich vollsäuft und an deren Ende er wahrscheinlich ordentlich verprügelt wird. Genau lässt es sich nicht sagen, denn alles ist aus seiner, schließlich ziemlich verschwommenen Sicht geschrieben. Nun sind, vierzehn Jahre nach dem Tod des Autors, der konsequent und stilvoll 52jährig einem Kehlkropfkrebs erlag, seine ersten ernsthaften literarischen Versuche erschienen: DIE AUFZEICHNUNGEN EINES PSYCHOPATHEN. Darin erzählt er in Tagebuchform die Zeit von Oktober 1956 bis Oktober 1957, die entscheidend war für ihn, da er sich damals nicht nur der Literatur verschrieb, sondern auch seinen Vater und Bruder verlor und von der Universität geworfen wurde.
Wovon handelt ein Jahr im Leben eines Menschen? Von nichts zunächst. Es ist ein willkürlicher Abschnitt, der begrenzt wird von zwei Silvesterfesten oder Geburtstagen. In diesen Aufzeichnungen, die in Wirklichkeit nichts weiter sind als Skizzen und Fetzen auf der Suche nach einer Form weiterzuschreiben im Leben, ist festgehalten, wie der Held leidenschaftlich dem Alkohol verfällt, um irgendwann genug Verdruss und Mut für den Suizid getrunken zu haben. Wie er sich aber dann in einen enthusiastischen Nihilisten verwandelt, der mehr Energie aufwendet, das Nichts in allen Dingen aufzuspüren, als die anderen auf die Suche nach Sinn im Dasein. "Die Alkoholiker - samt und sonders - sind für mich keine Menschen! Es sind keine! Wir werden alle draufgehen! Also müssen wir uns alles nehmen, was uns gefällt, solange wir leben! Ich zum Beispiel, ich trinke einfach! Das gefällt mir! Darum trink ich!" So trinkt sich der junge Mensch in einen Zustand, in dem er sich selbst auch nicht mehr für zurechnungsfähig hält. Jerofejew hat das fertige Manuskript damals einem Freund anvertraut, und das war schlau, denn einem Gerücht zufolge hat er einmal einen kompletten Roman und zwei Flaschen Portwein in der Straßenbahn liegen lassen. Leid habe es ihm nur um den Portwein getan, behauptete er später.
Die emotionale Ausnüchterungszelle ist für ihn die Sexualität: "Der sexuellen Befriedigung wird stets der sexuelle Trotz vorgezogen... [...] Denn der Mensch sympathisiert ja mit Hilfe seines Geschlechtsorgans nebst einem Zusatz von Verstand, keineswegs aber mit Hilfe seiner linken Herzvorkammer oder seines rechten Magens! Was? Hitze im Blut? [...] Na ja die Hitze gibt es auch; niemand wird bestreiten, dass die Hitze tatsächlich stattfindet, aber Sie werden mir doch nicht widersprechen, wenn ich bemerke, dass Ihre berüchtigte Hitze hervorgerufen wird von der Bewegung der dahinrasenden Boten vom Verstand zum Geschlechtsorgen und vom Geschlechtsorgan zum Verstand! Und Ihr Herz (oh seien Sie mir bitte nicht böse!) Ihr Herz ist ein höchst banaler Auspannhof, in dem die oben erwähnten Boten die Gewohnheit haben (eine löbliche Gewohnheit), besoffenen Radau zu inszenieren und Gott zu lästern..."
Aber statt zum Bukowski des Ostens zu werden oder im Ekel vor dem Schicksal ausschließlich Hohelieder der Trunkenheit zu komponieren, zieht er sich trotzig in seine Bücher zurück und diese der Realität vor: "Das glaub ich dir gern. Anetschka.... Du hast viel mehr gesehen als ich; du kannst siebzig werden und noch mehr sehen - und als Krönung des Ganzen seufzen: ‚Tja, das Leben ist schwer'. Verrrdammt noch mal, das ist doch so, als ob man die ganze Welt bereist, ein Unmasse von Eindrücken sammelt, genauer die Möglichkeit hat, sie zu sammeln, und nach der Rückkehr nur sagt: ‚Tja, die Erde ist wirklich rund', was ja längst alle wissen!"
Die Literatur wird ihm zur Droge, zum Weltersatz und sein Schreiben wirkt wie ein Sampling alter Autoren. Da begegnen einem manchmal tschechowsche Figuren mit ihrer schrulligen Einfachheit, da fühlt sich stellenweise nicht nur Jerofejew durch seinen Lebenswandel an den OBLOMOW von Gontscharow erinnert. Er reiht skurrile, düstere, auf die Absurdität des Alltags hinweisende Episoden aneinander, in denen von allen Möglichkeiten, Körperflüssigkeiten von sich zu geben, am Häufigsten vom Erbrechen die Rede ist. Diese Minimelodramen lesen sich wie Daniil Charms' Zwischenfälle: Wer will, muss nicht chronologisch, kann irgendwo reinspringen und sich zwei, drei Brocken schlechte Laune herausbrechen. "Kommt zu der Überzeugung, dass die Abscheu die natürlichste Haltung zu dem Gegenstand ist und dass es an der Oberfläche des Planeten nichts geben soll, zu dem ihr Zuneigung verspürt." Das ist der Buchstaben gewordene Soundtrack zur Herbstdepression.
Alles dreht sich immer mehr ums eigene Ich: Er sammelt Stimmen anderer über sich. Das Saufen wird zur Entschuldigung in Passagen, bei denen er nicht mehr sicher sagen kann, ob das Niedergeschriebene etwas mit der Realität zu tun hat oder nur geträumt war. Er inszeniert sogar die eigene Beerdigung mit viel Bombast und Elend. "Ich spürte gleichsam das Rascheln des Sandes und die rhythmischen Schläge auf das Dach meiner letzten Behausung. Und - vielleicht die Phantasie eines betäubten Menschen - die knappen und eintönigen Laute wurden für mich zu einer wundersamen Melodie." Er wird einer, der durch den Abgrund spaziert, um endlich in begeisterter Fassungslosigkeit vor der Leere zu stehen und sich an ihr und Schnaps zu berauschen. "Früher habe ich viel gelesen, jetzt interessiere ich mich für rein gar nichts. Ich weiß einfach, dass kein Buch, keine Musik mein Gefühl ausdrückt. Ich bräuchte ein Werk, das die kompliziertesten Gefühle ausdrückt - und zugleich rein gar nichts. Überhaupt brauche ich gar nichts." Am Ende ist Jerofejew der Mann, der aufbrach seine Verrücktheit zu entwickeln und nur die in seiner Umgebung findet. Ins Scheitern an ihr, ins ewigen Ausgesperrtbleiben vom Wahnsinn legt er die Basis für sein Werk, das nicht genial sein muss, weil Genialität für Blöde ist, und er stattdessen lieber säuft und sich nicht für Frauen interessiert.

Willibald Spatz
2. November 2004

Information

mehr Kritiken