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Zum 60. Todesjahr von Else Lasker-Schüler 2005

Was heißt, die hat gesponnen, nur weil sie verrückt verkleidet mit Blockflöte im Mund durch Berlin spaziert ist? Würde man sagen "Ihre Vorstellungskraft war stärker als die Wirklichkeit", träfe man die Wahrheit eher. Das Schicksal hatte sie ein bisschen im Stich gelassen, und deshalb zog Else Lasker-Schüler es vor, fortan der Prinz Jussuf von Theben zu sein und so die Umwelt damit weniger zu schockieren als zu verwirren. "Mein Herz wird täglich magerer in der Brust, wie die Mondhälfte in den Wolken", sagt er, sagt sie in einem der Berichte aus dieser Phantasie. Diese Umwelt wiederum war ganz gierig darauf, ein Teil dieses Universums zu werden oder es völlig abzulehnen. Glaubt man Zeugen, die sie erleben durften, war ihre Ausstrahlung durchschlagend. Das Ehepaar Maria und Franz Marc sagte über sie: "Sie passt nicht zu den Menschen, unter denen sie lebte und lebt, auch sie ist verdorben." Sie nahmen die 43-jährige - Prinz Jussuf sei damals erst 36 gewesen, sagt sie - 1912 bei sich in Sindelsdorf auf nach der Trennung von ihrem zweiten Mann Herwarth Walden. Franz Marc meinte über die gemeinsame Woche: "Die Erlebnisse mit ihr sind vielfach."
Alle waren ihr entweder Freund oder Feind, und alle waren mächtig. Es ging ihr wirklich nicht gut nach jener Trennung. Nicht nur dass Herwarth Walden sie fest in seinem STURM publizierte, sie war auch angewiesen: "Ohne dich Herwarth, geht es hier doch nicht. Du hilfst mir immer in der Geschichte, auch geniere ich mich, jemanden zu bitten, mir die Kommas zu machen", schreibt sie in dem Briefroman MEIN HERZ, der die charmante Widmung "Niemandem" vor sich her trägt. Nachdem es mit Herwarth gar nicht mehr ging, wusste sie nicht, womit sie finanziell für sich und ihren unehelichen Sohn auskommen sollte. Da rief Freund Karl Kraus in seiner Zeitschrift DIE FACKEL zum Spenden für die Arme auf. Die bescheidenen, resultierenden elf Mark fünf kommentierte das Fachblatt GEISTIGES EIGENTUM als ein "gesundes Urteil des deutschen Volkes". Und die Spender? Alle nicht ganz dicht? Franz Kafka: "Ich habe fünf K. hergeben müssen, ohne das geringste Mitgefühl zu haben. Ich weiß den eigentlichen Grund nicht, aber ich stelle sie mir immer nur als eine Säuferin vor, die sich die Nacht durch die Kaffeehäuser schleppt."
Und egal, wie man sie sich 2005 - sechzig Jahre nach ihrem Tod in Jerusalem - vorstellt, sie wird immer einer der außergewöhnlichsten und bizarrsten Menschen sein, die man hätte kennen können. Wieso also soll dieses Jahr kein Anlass sein, mal wieder Stunden mit dem liebsten Feind oder komischsten Freund zu verbringen? "Wir wollen wie zwei seltene Tiere liebesruhen im hohen Rohre hinter dieser Welt."

Willibald Spatz
1. Dezember 2004

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