Jetzt wird in die Hände gespuckt
Extra milder Sommer

Es regnete schon den ganzen Tag, die ganze Zeit. Das war nicht das, was wir gewohnt waren, Sommer zu nennen. Urlaub machen ist eine Kunst, eine viel größere, als man annimmt. Nichts ist leerer als ein leerer Badestrand und nichts grauer als von oben eingeweichter Sand. Ich blickte von meinem verhassten Balkon hinab auf den verhassten Strand, den ich umso mehr hasste, je mehr ich mir vorstellte, wie schön dieser Anblick hätte sein können für das in Wirklichkeit wenige Geld, das sie mir dafür genommen hatten.
Mir kindischer Freude fasste ich den Entschluss, diese seltene Gelegenheit zu nutzen, mich bereits tagsüber so zu besaufen, dass mich mein eigener Sohn nicht mehr erkennen würde.
Ich ging hinaus in diese gräßliche Kälte und ließ mich sofort in ein Taxi fallen, um meine Haut zu retten, wenn meine Augen schon verderben mussten. Haben die Menschen hier noch nie bemerkt, wie häßlich sie sich diesen von Natur aus wunderbaren Flecken Planet zugerichtet haben?
„Bring me to the next pub, please, but not, where the tourists go. If you know what I mean.“
Kaum ausgesprochen schimpfte ich mich selbst in Gedanken schon das größte deutsche Rindvieh südlich der Alpenlinie, aber mein Taxifahrer war ein guter Mann, verstand mich durchaus richtig. Er brachte mich nicht zu einem Etablissement, das mehr Abenteuer verhieß, als ich vertragen wollte, sondern fuhr mich langsam aus dem Kern, weg vom Meer, dorthin, wo die Menschen hier leben, wenn sie nichts mit uns zu tun haben. Es wurde draußen immer trostloser. Sie hatten sich Mühe gegeben mit den Fassaden, die sie uns Touristen an den Strand gestellt hatten. Das hier war bescheidenes Wohlstandseinerlei, das ich jedem gönne auf der Welt, nur um Gottes Willen nicht geschenkt haben möchte.
Wir fuhren in den nächsten Ort, der, weil er keine Berührung mit dem Meer hatte, von keinem von uns Ausländern entdeckt worden war. Als wir das Stadtschild passierten, spürte ich mein Herz einen schnellen Schlag machen, und ich weiß noch genau, dass ich in dem Moment dachte: „Du fährst gerade in ein Abenteuer.“ und stolz wie ein Dreijähriger war. Von hier aus hatte man den ersten unverbauten Blick auf die kargen Berge des Hinterlands, ich sehnte mich da hinauf, schnell und egal, ob regen- oder schweißnass. Ich hatte ein Ziel in meinem Kopf geboren.
Der Herr hielt und ließ mich bezahlen. Das Taxi gab mich frei in Niesel und einen ruhigen Stadtplatz mit einem blöden Supermarkt und mittags fensterladen-geschlossenen Häusern. Mittag ist Mittag. Es gab ein Denkmal für jemanden, auf den sie stolz waren, ein gepflegtes Drumherum mit zwei Palmen und roten Blumen. Ich beschloss, nicht hinzugehen und zu schauen, wer hier als Held in Bronzebüste verehrt wurde, einmal, weil ich ihn eh nicht kennen würde, ein zweites Mal, weil es mich in meinem tiefsten Inneren nicht im Gegenwert von eineinhalb spanischen Cent interessierte.
Und dann die Bar. Ich betrat sie und hielt mein Leben für ein Symbol ihrer Schäbigkeit. Nicht umgekehrt. Es gab die Theke mit Süßigkeiten und Telefonkarten. Und es gab die andere Hälfte mit einer Reihe von Tischen an den Fenstern. Dort saßen Alte, aufgedunsen, vor Kaffees, Colas, einmal in Gruppen um ein Schachspiel, dann wieder allein. Ich entdeckte erleichtert einen Einsamen Schnaps trinken. Kurz nach Mittag. Wenn mein Taxifahrer nun lachte, heimlich, weil er vorstellte, wie nun mein Gesicht war, da ich hier gelandet war, dann freute ich mich, im unwissentlich eins ausgewischt zu haben, denn ich fühlte mich genau richtig.
„Please a red wine.“
Der dicke, grau-glatzköpfige Wirt lächelte zwar, als ich bestellte, brachte dann aber devot das Glas an meinen Tisch. Ich bedankte mich und schaute hinaus durch die zigarettenrauch-gelben Vorhänge auf den Regen und freute mich gemütlich. Es war nicht kalt hier. Es war kein schlechter Ort hier. Man konnte mich nicht durchschauen, was ich hier wollte, man konnte keinen einzigen meiner Gedanken verstehen. Ich war ein Fremder auf Probe hier, Teil eines persönlichen Experiments. Vielleicht würde ich hier bleiben und nichts mehr wissen wollen von meiner so genannten Heimat. Ich fühlte mich sofort dreißig Jahre älter und meinem Zielhafen näher als zuvor. Ich verdanke alles, was ich sein werde, einem Regen, der zur rechten Zeit gefallen ist.
„Excuse me, are you a stranger, too?“ Ich wurde angesprochen.
„Yes. Aber wir können Deutsch reden.“
„Haben Sie es vernommen? Die haben einen extra milden Sommer hier. Wie seit tausend Jahren vielleicht nicht mehr. Während die in Deutschland unter der Hitze zerfließen. Sagt der Sprecher in RTL. Wenn ich denke, dass das womöglich mein einziger Urlaub dieses Jahr ist. Aber klagen kann man nicht. Ich habe mit meinem Anwalt telefoniert. – Machen wir das Beste draus. Senor, another red wine, please.“
Ich bezahlte und dachte mir auf dem Rückweg zu Fuß, als sich die Sonne nach zehn Tagen zum ersten Mal schüchtern hinter dem Berg zeigte, dass der Sprecher von RTL wahrscheinlich am wenigsten für das Elend in der Welt könne.

 

Willibald Spatz
5. September 2005

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