Insomnia – schlaflos

Die kriminologische Institut Niedersachsen hat in einer Studie nachgewiesen, dass 63 Prozent aller Straftaten mit tödlichem Ausgang aus Versehen passieren, also ohne dass bei der Ausübung der Straftat eine Tötungsabsicht vorlag. Die Aufklärungsquote dieser unabsichtlich ausgeführten Straftaten mit tödlichem Ausgang ist mit 94 % relativ hoch.

„Aber wer hätte gedacht, dass der alte Mann so viel Blut in sich hat?“ Shakespeare, Macbeth

Wenn man früher volltrunken übergelaufen ist und alles um sich besudelt hat und nachts noch begonnen hat rumzuputzen und versucht hat, gründlich zu sein, dann blieben doch immer ein paar Spritzer – Schandflecken am nächsten Morgen, die man nachts bei dem spärlichen Licht nicht sehen konnte. Als man nachts noch geschlafen hat.
Jetzt putze ich wieder, diesmal ist es Blut, und ich schrubbe und schrubbe mit wachsender Gewissheit, dass etwas übrig bleiben wird, das mich verraten wird, das mein Leben in eine neue, fatale Richtung lenken wird.
Ich kenne niemanden, der nicht abgestimmt hat bei der EU, als es um die Sommer- oder Winterzeit ging, und auch keinen, der nicht auf einmal großartige Argumente hatte, weshalb die eine Zeit gut und die andere Gift für den Bio-Rhythmus sei. Die Natur habe das seit Jahrhunderten so eingerichtet. Was für ein Scheiß! Was für Deppen meine Mitmenschen über Nacht geworden sind. Wenn die Natur etwas eingerichtet hat, dann war das vor hunderttausend Jahren. Seitdem hat sich nichts mehr verändert, für diese Erkenntnis gabs vor ein paar Jahren sogar noch einen Nobelpreis. Wenn jetzt die, die zeitumstellungsbedingt gegen ihre Uhrzeit aufstehen oder was auch immer, früher Herzinfarkte und anderen Bummbumm bekommen, dann bekommen sie es auch erst mit 40 und 50, wenn sie die meisten ihrer Nachkommen schon haben. Und wenn sie keine Nachkommen mehr bekommen, dann können sie aufstehen, wann sie wollen, dann wird daraus kein Selektionsfaktor mehr. Punkt. Steht schon beim Darwin, ungefähr auf Seite 350, falls es jemanden nachlesen will.
Tatsache ist, dass ich meinen persönlichen Bio-Rhythmus seit Jahren ficke, also genau genommen ist es die beschissene Gesellschaft, die mich dazu zwingt. Ich stehe auf zu einer Zeit, die, wem auch immer sie gehört, sicher nicht meine ist. Könnt ihr alle haben, die Zeit. Und gehe ins Bett, quietschfidel und hellwach, muss ja fit sein für den nächsten Arbeitstag. Wenn nur eine einzige Mücke mit einem einzigen Flügel leicht an einer Fensterscheibe streift, zehn Minuten, nachdem ich eingeschlafen bin, dann zack – bin ich wieder dabei. Alle Systeme auf Vollgas. In Sekundenbruchteilschnelle.
Dann kommen diese Stunden, in denen der vergangene Tag durchgekaut wird, wieder und wieder, viel länger, als er gedauert hat in der Erinnerung. In denen Reden geübt werden für den nächsten Tag, die Gegner argumentativ zu Staub zerblasen werden. Ratatata. Die Sehnsucht, dass es endlich Zeit wird, aufzustehen und das Tagwerk in zwei, drei Stunden runterzureißen und sich dann, nach getaner Arbeit, um zehn vormittags wieder drei Stunden abzulegen.
Angeblich geht es 73 Prozent aller Erwachsenen so wie mir. Schwacher Trost. Einer von den Idioten zu sein, die nicht mal aufstehen und ihr Leben in den Griff kriegen. Früher in anderen, gesünderen Jahrhunderten hat man anders geschlafen. Da ist man nach drei, vier Stunden aufgestanden und hat im Schlafrock die Nachbarn besucht, denen es ja ähnlich ging. Die Nacht durfte ihre großen Ideen gebären. Opern, Kathedralen, die Wasserstoffbombe – alles Kinder der Nacht. Oder man hat untertags geschlafen.
Es ist ruhig. Ich stehe auf, setze mich an den Tisch. Und warte. Die Stille. Da draußen sind Tausende wie ich, die noch nicht aufgestanden sind. Kein Schlaf ist im Anzug. Ich werde nicht mit Bier nachhelfen, dieser Versuchung ist zu widerstehen. In jeder Nacht. Die Gedanken, sie kreisen mich wieder ein. Eine Sekunde länger an diesem Tisch und ich werde augenblicklich wahnsinnig.

„Weg, verdammter Fleck! Weg, sage ich!“ Shakespeare, Macbeth

Ich erwische mich in letzter Zeit oft beim Händewaschen. Man soll sich ja viel die Hände waschen. Die Keime sind überall. Die wollen in uns rein und in uns wohnen, damit wir krank werden von ihnen. Wenn ich eine Person anfasse, habe ich 100 Millionen Keime an meiner Hand. Wenn ich ein Ding berühre, das eine Person vor mir angefasst hat, habe ich immer noch zehn Millionen Keime an mir. Fremde Keime. Die kann ich nicht wollen. Ich kenne die Person dieser Keime kaum. Nur weil sie eben im selben Raum war wie ich, haben wir doch sonst noch nichts gemeinsam. Deswegen soll man Hände waschen, bevor man sich die Hände in den Mund oder anderswo reinschiebt. Denn darauf warten die Keime nur. Die wollen da rein und sich breit machen. Die wollen meinen Körper erobern und besetzen, und ich bin dann nicht mehr Herr im eigenen Haus.
Aber man soll es nicht übertreiben. Nichts soll man übertreiben. Nichts ist gesünder und nachhaltiger als ein Leben in der Mitte. Mittelleben, Mitteleinkommen, Mittelkonsum, mitteldick, mittelreich, mittelschön, mittelhungrig, mittelgeil – diese Menschen leben am längsten und am besten. Nun stelle ich am Waschbecken einen gewissen Hang zum Exzess an mir fest. Ich wasche mir öfter die Hände, als es nötig ist, ich benutze mehr Seife, als klug ist, ich verschwende mehr Wasser, als mir zusteht. Mein ökologischer Fußabdruck wächst und wächst, während sich meine Hand wäscht. Ich schließe den Hahn und setze mich und starre in die Nacht. Ich starre auf mich, weil das Licht an ist und ich mich spiegele, dort, wo die Nacht beginnt, dunkel zu sein. Mein Spiegelbild ist unvollständig, ich sehe dunkle Stellen. Fragezeichen in meinem Gesicht. Wer starrt mich da aus der Dunkelheit an? Wozu ist diese Person fähig? Dieses Spiegelbild ist keimfrei, dieses Spiegelbild ist rein. Diese Person besitzt keine Keime und damit auch keinen Charakter. Die Keime, die eine Person trägt, sagen mehr über ihren Charakter als ihre Worte. Ich wasche mir dauernd die Hände. Wieso wasche ich mir dauernd die Hände? Wovor fürchte ich mich? Ich habe seit Stunden niemanden mehr berührt. Ich habe nichts berührt, was jemand anderer berührt hat als ich. Ich habe mir schon zwei mal die Hände gewaschen. Was soll da noch weggehen?

„Wenns uns mißlänge...“ – „Uns mißlingen!“ Shakespeare, Macbeth

Die Nacht ist mild für diese Jahreszeit, ein warmer Wind bläst letzte Blätter von den Bäumen. Im Licht der Straßenlaterne sind einzelne Tropfen Regen zu sehen. Der Rest ist dunkel. Hinter keiner Fensterscheibe ein Anzeichen von Leben. Ich lasse mich buchstäblich vom Wind treiben. Und mit jedem Schritt fühle ich eine erlösende Müdigkeit in mir anwachsen. Tausend Schritte in die Richtung, in die der Wind mich bläst, tausend wieder zurück, die Lungen vollgepumpt mit frischer Luft. Das beste Schlafmittel, ich werde in die Wiege sinken wie das Jesuskind und in einen traumlosen Schlaf verfallen wie Dornröschen. Hundert Jahre. Das kann ich jetzt.
Vorhin ist die Tür geschlossen gewesen. Ich bin mir sicher. Nicht meine. Die vom Nachbarn. Jetzt spielt der Wind mit ihr. Immer hin und her. Und bumm ist sie auf, bietet mir ein schwarzes Loch als Einladung an.
Die wichtigsten Entscheidungen in unserem Leben, für die wir nächtelang gegrübelt haben, sind in Wirklichkeit chemische Reaktionen, Neurotransmitter, die in Bruchteilen von Sekunden ausgeschüttet werden, und alles klar machen.
Wenn die Tür vorhin verschlossen war und nun zweitausend Schritte später offen ist, dann ist etwas passiert. Ein älterer Herr, der freundlich grüßt, aber im Grunde einsam ist wie ein Stein. Dessen Tage, Stunden gezählt sein könnten, ein freundlich grüßendes graues Mahnmal an die Vergänglichkeit des Lebens.
Hallo rufen, einen Schritt nach dem anderen, da vorne, das könnte das Wohnzimmer sein. Der Gang ist aufgeräumt und riecht nach angebratenen Zwiebeln und ranzigem Schuh. Dort vorne leuchet stumm und allein der Standby-Knopf des Fernsehers. Hallo.
Etwas Prügelschweres trifft mich am Hinterkopf, kurz wird’s noch schwärzer, als es eben noch war. Und im Reflex drehe ich mich um, stoße gegen die Wohnzimmertür und noch etwas Festeres dahinter. Die Scheibe in der Tür klirrt, sie birst. Etwas fällt zu Boden und auf einmal mischt sich eine Pfefferminznote in die Düfte des Raums. Ein Blubbern, ein Röcheln, wie die letzten Tropfen Wasser, die die Badewanne verlassen. Dann ist Ruhe. Der Wind stürmt draußen und biegt Zweige eines großen Walnussbaums vor dem Fenster.
Es ist nichts mehr zu machen. Ich hätte mich nicht zu ihm runterbeugen sollen. Tot ist tot. Ich bin kein Experte. Und dann das Blut überall. Ich bin voll. Die Hände, die Kleidung. Ich hätte nichts machen sollen. Ich hätte telefonieren sollen. Stattdessen habe ich angefangen zu putzen. Warum? Ich bin der Einbrecher. Ich streife nachts um die Häuser. Ich habe das Licht angemacht. Ich sehe mein Spiegelbild, eine Person, die nichts mit mir zu tun haben will, die weg ist, wenn es hell ist. Ich putze und auf einmal bin ich müde und möchte mich in diesen Blutfleck legen und schlafen, schlafen hundert Jahre.

8. Dezember 2018

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