Publikumsenthauptung
„Anatomie Titus Fall of Rome ein Shakespearekommentar“ in den Münchner Kammerspielen

Betrachtet man das Publikum einer Theateraufführung, nur mal das Publikum: Geschichten sitzen da, nicht fassbar für zwei Augen, beim besten Willen nicht. In Johan Simons’ Inszenierung von Heiner Müllers „Anatomie Titus Fall of Rome ein Shakespearekommentar“ in den Münchner Kammerspielen sitzt das gesamte Personal auf der Bühne in Sitzreihen und spielt Publikum. Elf Figuren werden genau und permanent durcherzählt, und das erfordert einen inszenatorischen Kraftakt, bei dem in aller Anerkennung die Frage erlaubt sein muss, ob er sich lohnt, für das Stück, für den Abend.
Shakespeares frühes Drama „Titus Andronicus” ist bluttriefend. 35 Morde zählt die Statistik, und das ist viel. Deshalb hat Heiner Müller in seiner Übersetzung und gleichzeitigen Bearbeitung vor allem an Blut gespart, indem er einen Erzähler einführt, der die ersten eineinhalb Akte in Worten zusammenfasst. In den Kammerspielen ist dieser einer von zweien, die auf ihren Plätzen sitzen und schlafen und durch ihr Erwachen den Beginn des Spiels signalisieren – das Licht im eigentlichen Zuschauerraum bleibt die ganze Aufführung über brennen. Johan Simons geht einen Schritt weiter, denn er fegt praktisch alles blutleer. Auf seine Ermordung reagiert der Kaiserbruder Bassian mit einem Gang in die letzte Reihe und stilles Hinsitzen und die gotische Kaisergattin Tamora mit einem enttäuschten Kopfschütteln. Keiner muss raus nach seinem Tod oder auch nur aufhören zu spielen. Wenn einer zum anderen geht, um ihm eine unheilsvolle Botschaft oder den Tod selbst zu bringen, muss er in der Regel über besetzte Plätze und entschuldigt sich höflich bei den Sitzenden. Das ist ein ungewöhnlicher Umgang mit dem Stoff.
Die zweite große Regieidee besteht aus zwei Kameras, die auf der Straße vor dem Theater installiert sind und scheinbar zufällige Bilder auf die Bühne strahlen. Das ist nicht eingerichtet, um die Illusion, hier echtes Leben zu sehen, zu zerstören, sondern ein Blick, den die vom Spiel gefesselte Aufmerksamkeit auf die Leinwand erlaubt, zeigt, dass auch draußen was Handlungsrelevantes geschieht.
In einer Zeit, in der das Theater durch die natürliche Allgemeinbildung die Chance verspielt hat, seine alten Geschichten als unbekannte zu verkaufen, hat es nur die Möglichkeit, aber auch den Zwang, neue Arten zu erfinden, wie es sie präsentiert. Johan Simons’ Ansatz, Gewalt ohne Bilder von ihr zu zeigen, ist ein origineller, aber zunächst auch einer, der den Trieb in einem stimuliert, zwischendrin doch mal eine abgehackte Frauenhand sehen zu wollen. Dann aber entfaltet er seine Wirkung und man braucht das Blut nicht mehr, um die Worte in sein Inneres dringen zu lassen. Johan Simons ist auf der Suche nach neuen Formen, ohne jemals behaupten zu wollen, jetzt schon an einem Ziel anzukommen. Das scheint in dem Fall der absolut richtige Weg zu sein. Auch wenn die Sache in Ausnahmemomenten etwas zu verkopft und sich selbst feiernd wirkt, darf man das dem Experiment gern verzeihen, zumal als Profit winkt, seine alten Schreckensbilder vom Fernseher, Theater oder echten Leben im Kopf neu sortiert zu bekommen.

Willibald Spatz
7. Dezember 2003

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