Vom Lachen und vom Weinen
Die Ratten am Hamburger Thalia Theater

Wir haben uns unsere Gene nur geliehen, 50 % gehören jedem unserer Kinder. Vater sein oder Mutter sein ist das Einzige, worum es sich dreht, koste es, was es wolle, sei’s ein anderes Leben.
Darum geht es im tragischen Teil der Tragikomödie Die Ratten von Gerhart Hauptmann. Frau John will ihrem Mann, der in Altona weit weg arbeitet, die Nachwuchsfreude nicht verwehren und kauft der auf der Straße aufgelesenen Pauline ihr Kind ab. Die hätte es sonst im Fluss verschwinden lassen und keiner hätte mehr etwas davon gehabt. Das Glück scheint eingekehrt, der Scheinvater freut sich. Da rührt sich die Sehnsucht nach dem Geborenen in der eigentlichen Mutter, der Schwindel droht aufzufliegen. Frau John bemüht ihren Bruder Bruno, die Lästige vom Leib zu halten. Seine Hände sind zu grob: Das Kind wird seine leibliche Mutter nie mehr sehen können. Das Unheil hat freie Bahn, seinen Lauf zu nehmen.
In diese schlimme Hälfte schwappen in Armin Petras’ Inszenierung gelegentlich Elemente der Komödie, in der unter demselben Dach der ausrangierte Theaterdirektor Hassenreuter seinen Fundus untergebracht hat und Schülern seine Vorstellung vom Theaterspiel beibringt. Einer von ihnen ist der ehemalige Theologiestudent Spitta, der die Hassenreuter-Tochter Walburga gern sieht. Der Fundus unter dem Dachboden dient auch als Ort heimlicher Treffen von Hassenreuter und seiner Geliebten Alice Rütterbusch, von Walburga und Spitta und auch von Frau John, der Verwalterin, und Pauline. Das Kind wird dort geboren.
Bunt lässt es Petras zugehen auf seiner schlichten Bühne, die ganz ohne das erwartete Gerümpel auskommen muss, ein schräges Vorderteil hat und hinten oben eine Kammer. Hassenreuter öffnet pantomimisch ein Fenster, als er von Alice darum gebeten wird, die Schauspielschüler dürfen in eine Filmkamera ihre Biographie und Zukunftswünsche sagen, geprobt wird in großen Plüschtiermasken und mit Plastiklaserpistolen. Ein Kind stirbt auf der Bühne, das der Nachbarin Sidonie Knobbe. Hier bekommt eine kleine Puppe vor Engelsflügel angehängt und rote Farbe übergeschüttet, in Großaufnahme auf der Leinwand.
Gute Ideen, alles sehr unterhaltsam, aber der Verdacht macht sich breit, dass hier ein Stück zurecht gestutzt wurde, um es heute witzig auf der Bühne zu haben. Herr und Frau John werfen ihr Kind, das auch nichts anderes ist als eine Puppe, fröhlich zwischen sich hin und her und verstecken es bei Bedarf unterm Sofa, das 150 gekostet hat. Sieht man, weil John es seiner Frau als Geschenk mitgebracht hat und vergessen, das Preisschild abzumachen.
Aber zum Kern seiner Absicht stößt Petras erst im fünften Akt, wo er den Text sauber dividiert, die Tragödie schnittmengenfrei von der Komödie abdestilliert hat. Anders als bei Hauptmann zieht der Tross um Hassenreuter munter ab zu seiner neuen Intendantenstelle in Straßburg, bevor Bruno wieder auftaucht und von seinem Mord berichtet. Die letzte komische Szene, weil Bruno und John in einer Doppelrolle von Peter Kurth gespielt werden, der sich im hitzigen Dialog der beiden ständig verwandeln muss. Und dann tritt die Tote wieder auf, setzt sich mit Bruno und Frau John aufs Sofa, und mit dem Kind auf dem Schoß sehen sie fast aus wie eine Familie. Bruno wiederholt den Mord, für alle sichtbar. Es fließt kein Blut, sondern eine Kanne Muttermilch. Auch dann ist sie nicht weg, sondern doppelt stützend Frau John, ihr gemeinsames Kind haltend, und die beiden Frauen gehen zusammen mit dem Kind in den Tod, verschwinden mit ihrer Schuld und ihrem Sinn des Lebens. Man hat nun verstanden, warum man die Zeit zum Lachen vorher bekam: Der Ernst wird erträglich.

Willibald Spatz
27. April 2004

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