Zu wenig Nichts
„Der Keil“ und „Der Mönch und das Mädchen“

Eigentlich ist es Quatsch, ein Theaterpublikum ärgern zu wollen, wenn man mehr von ihm will als ein paar Euro an der Kasse. Aber es ist in Ordnung, sein Publikum zu provozieren und zu verwirren, denn Publikum will vor allem: spüren, dass was von ihm gewollt wird, was mehr ist als ein paar Euro an der Kasse. Jetzt ist ja Publikum nicht ein Mensch oder eine Maschine, die man einschätzen oder berechnen könnte, wie sie auf einen bestimmten Input reagiert. Man weiß gar nicht, wie es gerade drauf ist am Tag der Vorstellung, was es erlebt hat, ob es sich heute verknallt hat oder verlassen wurde oder nur im Bett lag und nichts wahrgenommen hat. Da kann man dann natürlich mit der schönsten Liebeserklärung daherkommen und auf die größte Taubheit stoßen.
Der Zirkus „Der Keil“ hatte sich viel vorgenommen mit seinem Publikum und wollte wenig dem Zufall überlassen, hat die Menschen also aufwendig auf das Stück „Der Mönch und das Mädchen“ und der darin eingewobenen Performance „Wer bis zum Schluss bleibt, bekommt einen Schnaps umsonst“ vorbereitet, nicht ohne die Absicht, die Erwartungen, die nicht zuletzt der Titel weckt, wieder ein bisschen zu enttäuschen. Vorausgreifend zusammengefasst ging es darum, möglichst viele Versprechungen zu machen, ohne sie einzulösen, das Publikum auf leere Versprechungen zu konditionieren, so dass man es dann enttäuscht, indem man doch etwas einlöst, und gleichzeitig damit glücklich macht.
Man freut sich über enttäuschte Erwartungen. Wenn man sich die Zeit nimmt und nachdenkt, ist Theater in Wirklichkeit selten etwas anderes als Erwartungen aufbauen und die zu erfüllen oder nicht. Das ist die Regel, wer sich nicht daran hält, wird sich schwer tun, sein Publikum zu halten, egal, wie es aussieht. Man hat es also bei „Der Mönch und das Mädchen“ ganz wesentlich mit theatraler Grundlagenforschung zu tun.
Ein Stück, das „der Keil“, damals noch eine Theatergruppe, zustande gebracht hat, hieß „Die Heuschrecken“, war mit „Unser Beitrag zur Bundestagswahl untertitelt“ und fand auch um die Zeit der letzten, Mitte bis Ende September 2005, auf die Bühne. In dem Stück, das mit der Tradition des absurden Theaters spielt, bekam man eine Reihe von Menschen vorgeführt, die täglich Gegenstände produzieren, die an einer Sammelstelle abliefern und daraufhin nach Hause spazieren, zurück zu ihrer sinnlosen Tätig- und Einsamkeit. Plötzlich wird verkündet, dass die Heuschrecken beschlossen hätten, die Fabriken zu schließen. Großer Aufruhr: Was soll jetzt geschehen, nachdem man ein ganzes Leben lang nicht gelernt hat, etwas mit ihm anzufangen? Es gibt einen, der dafür ist, mit den Heuschrecken zu reden, einen anderen, der für Aufstand ist. Die beiden halten flammende Reden, man würde sie losgelöst von der Bühne als Satire lesen und darüber schmunzeln, wie hier in geläufiger Rhetorik Kapitalismuskritik einst und heute durcheinander geworfen ist und überzogen gegeneinander ausgespielt wird. In diesem Fall funktioniert das aber anders: Vor den Zuschaueraugen wurde ein Welt eingerichtet, in der diese Worte stimmig sind, und Figuren etabliert, für die das nicht belanglos ist, sondern eine Entscheidung, die ihr weiteres Dasein, auch wenn es nur auf dieser Bühne stattfindet, die Wirklichkeit, die einzige, bestimmen wird. Die Entscheidung wird dann weitergegeben an das Publikum, das dann aber sowieso immer dasselbe zu sehen bekommt, egal wofür es stimmt, weshalb es zwar beschissen ist, wahrscheinlich aber nicht viel mehr als draußen im realen Kapitalismus mit seinen scheinbar so unbegrenzten Möglichkeiten.
So weit das reine Theater. Darauf folgte der Schritt auf die Straße. Der Modekonzern H&M hatte Kate Moss gefeuert, weil sie beim Kokainschnupfen erwischt worden war. Der Konzern hatte nämlich Angst um sein Image und davor, von den Medienmassen angeklagt zu werden, einerseits die Jugend einkleiden zu wollen, andrerseits schlechten Vorbildern für dieselbe viel Geld zu bezahlen. Um dagegen zu protestieren rief „Der Keil“ zu Mahnwachen für Kate Moss auf dem Würzburger Marktplatz vor der örtlichen H&M-Filiale auf. Eine Aktion, die zunächst Schmunzeln und Kopfschütteln auslöste und für eine Satire-Performance angesehen werden konnte, wie man sie gelegentlich vom Titanic-Magazin kennt: eine Solidaritäts-Kundgebung zu einem millionenreichen Skandal-Supermodel, während anderswo auf demselben Planeten Babies verhungern. Las man den Aufruf aber genauer, war er durchaus wasserdicht und nachvollziehbar. Es stand da unter anderem: „Kate Moss, heute 31, [wurde] als vierzehnjähriges Mädchen entdeckt und seitdem eingespannt in die Mühlen der grausamen Mode-Maschinerie, als deren Treibstoff und Schmieröl Alkohol und Kokain dienen. [...] Es kann nicht sein, dass sie ein Opfer von selbstherrlicher Doppelmoral werden soll! Gerade die Journalisten und Manager, die nun am lautesten gegen sie schrei(b)en, wären wahrscheinlich selbst ganz schön stolz gewesen, mal mit Kate Moss auf dem Klo eine Line gezogen zu haben – ist Kokain doch ausgerechnet in dieser Szene Modedroge #1! Weil sie anders ist als die anderen, weil sie sich mit Künstlern und Musikern umgibt, weil sie offen und ehrlich ihre Meinung sagt, weil sie ihr Leben lebt, soll Kate Moss nun mundtot gemacht werden!“ (Den ganzen Text kann man nachlesen auf: www.derkeil.org). Man hatte eine Argumentation verwendet, die abstrus, aber nicht unlogisch war, man hatte der Wirklichkeit bewiesen, dass sie genauso absurd funktioniert wie ein Theaterstück und sie deshalb auch nicht ernster nehmen ist als ein solches, wenn sie sich nicht grundlegend ändert. Umgekehrt heißt das auch, dass man mit jeder Aussage und jeder Veränderung auf der Bühne nun auch die ganze Welt meint und nicht nur ein vereinfachtes Modell von ihr, das gerade groß genug ist, um in dieses selbe Gebäude zu passen, in dem auch die Bühne Platz gefunden hat.
Es gab daraufhin eine Reihe von Auseinandersetzungen – unter anderem mit ATTAC und dem Theaterchef Wolfgang Schulz –, die zum Teil in der lokalen Presse breitgetreten und zum Teil auch schnell wieder deeskaliert wurden vom „Keil“. Die Details lassen sich wieder auf der Internetseite nachlesen. Im Wesentlichen diente dieses Nachspiel zum Vorspiel des kommenden Stücks der Aufmerksamkeitserregung, wenn man auch noch einmal an anderer Stelle nachkarten könnte, zum Beispiel bei dem Vorwurf an Wolfgang Schulz' Werkstattbühne: Ist deren Bekenntnis zum antiimperialistischen Theater wirklich so ein „Bankrott der Linken und das Scheitern einer besonders grausamen Form des politischen Theaters“, wie „Der Keil“ behauptet? Oder ist es lediglich der Versuch einer im Lauf der Zeit belanglos gewordenen Bühne, die Ausrichtung ihres Programms am Lehrplan besser rechtfertigen zu wollen als damit, dass man halt seine verdammten Reihen mittlerweile mit Schulklassen füllen muss, weil dem Rest der Menschheit dieses ewig-stupide szenische Klassikerherbeten inzwischen herzlich am Arsch vorbeigeht?
Die letzte leere Versprechung kam wenige Tage vor der Premiere auf die Homepage vom Keil: Kate Moss werde erscheinen, der Platz neben ihr werde verlost. Am Abend selbst war in der ersten Reihe ein Stuhl reserviert, spät gekommene Gäste mussten auf die unbequeme Ersatzbank, Kates Platz blieb kommentarlos unbesetzt. „Der Mönch und das Mädchen“ selbst scheiterte ein bisschen, weil das Publikum trotz wochenlanger Vorbereitung versagte, weil es offenbar schon zu sehr mit dem rechnete, was auf sie zukommen sollte. Die Idee war, die Menge zum Wuttoben zu bringen, indem alle paar Minuten das Spiel aus irgendeinem mageren Vorwand unterbrochen und angekündigt wird, erst dann fortzufahren, wenn zwanzig Euro für Kate Moss gespendet würden. Das funktionierte deswegen nicht, weil das Publikum sich als solches nicht darüber ärgerte, sondern laut lachend immer wieder den Geldbeutel zückte und die Körbe füllte. An sich ist das eine grandiose Idee, einen Schauspieler auf die Bühne zu stellen – es war Alexander Blühm als der Mönch – und ihn nichts machen zu lassen, bis Ruhe oder zwanzig Euro eingekehrt sind. Das wird nach fünf Minuten witzig – man beginnt zu lachen und das zu akzeptieren, dass man einen Ort der Ereignislosigkeit geraten ist, nicht an einen, an dem einem etwa Geschichten erzählt werden, und würde das jetzt leer und unbewegt lange aushalten, seinen Riesenspaß daran haben. In diesen Momenten tritt Philip Müller, das Keil-Mitglied, das maßgeblich für den Text und das Konzept von „Der Mönch und das Mädchen“ verantwortlich war, auf und ist so eine Art Direktor des Abends, erklärt, dass das Volk nicht sprechen dürfe, damit es weitergehe. Er raucht Zigaretten und verbietet es denjenigen, die versuchen, es ihm gleichzutun. Aber ungeschickterweise sorgt er damit auch dafür, dass doch wieder was passiert. Diese Direktor-Figur wäre in den meisten anderen Stücken eine originelle, hier stört sie das Gleichgewicht und auch die Intention. Wieder wird das Publikum zu Entscheidungen herangezogen, wie es denn in der Handlung weitergehen solle, wieder spielt es keine Rolle, für was gestimmt wird, das meiste bekommt man so oder so, vieles davon in Videosequenzen. Das Stück hat plötzlich eine Handlung, keine spektakuläre, eher eine, die man halt zu Ende absitzen muss, um dann tatsächlich den Schnaps zu bekommen. Die ständige Interaktion von Spielenden und Zuschauenden erinnert frappant an ein Fantasy-Rollenspiel, das nett mit zu spielen wäre, wenn man ein paar weniger wäre. Bevor allerdings die Stimmung ins allzu Fröhliche wächst und jeder meint plärren zu können, was er will, wird einer von einem Security-Mann aus der Vorstellung geschmissen; danach kehrt so etwas wie Disziplin ein im Zuschauerraum. Schöner Effekt.
Die Idee war gut: Etwas riesig aufzublasen und dann mit Nichts dazustehen, und daran ist der Keil gescheitert: Das Nichts war nicht Nichts, sondern insgesamt ein witziges Theaterstück mit ein paar Spezialeinlagen. Markus Czygan hat mal einen Riesenrummel verursacht, als er nur bekannt gab, er werde ein Stück namens „Zwei Hühner werden geschlachtet“ aufführen – lustigerweise in der Werkstattbühne. Prompt hatte er komplette deutsche Kulturjournalistentum von Bild bis Spiegel voll mit langen Berichten über den Würzburger Theaterskandal, der kommen werde. Das Stück am Premierenabend war dann wesentlich näher am Nichts als „Der Mönch und das Mädchen“, weshalb die Kulturdeppen wieder abzogen mit langen Gesichtern; sie hatten nichts zu berichten, hatten Wildes erwartet und Weniges bekommen, weil Markus Czygan kaum überlegt hatte, was er denen jetzt serviert, wenn sie sich schon mal herlocken ließen. Das war so schnell vorbei, wie es aufgeblasen war.
Der Keil wird dagegen längst nicht mehr an einem Abend gemessen, denn zwischen den einzelnen Aktionen ist bereits eine Kontinuität hergestellt, die durchaus den „Bauernvergewaltiger“ von vor eineinhalb Jahren ebenfalls mit einschließt und, wenn es gut geht mit der Welt, noch tausend andere Stücke in der Zukunft.

Willibald Spatz
13. November 2005

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