LOB UND BESCHIMPFUNGEN
Rückblick auf das Kinojahr 2005

Auch 2005 war ein Jahr der Bebilderung. Man glaubt schon nicht mehr an die Existenz von Personen oder Ereignissen, wenn sie nicht in einem Kinofilm noch mal fiktional vor Augen geführt werden. Der Gewinner war Gus Van Sant mit den LAST DAYS von Kurt Cobain, in dem Amerika seine groß gewordene innere Leere besummt.
Überhaupt Amerika. Lars von Trier wird nicht müde draufzuschauen, sein MANDERLAY beweist aber, das wir mittlerweile mit denen da drüben nichts mehr zu tun haben. Wir wollen nicht mehr dasselbe wie die, wir sind politisch und sexuell anders denkend. Wenn die Filme machen über ein Problem, das sie umtreibt, wie L. A. CRASH einer über den Rassismus war, dann wirkt das Thema darin seltsam unreif und oberflächlich abgearbeitet. Kino, das intellektuell gar keinen Zugang mehr findet in unsere Köpfe und uns so kalt zurücklässt im Kinosessel.
Besser war's, wenn die Blicke von Fremden auf Amerika als ein fremdes Land fielen, in dem die versuchen zu leben und Filme zu drehen. Wim Wenders' DON'T COME KNOCKING und auch Ang Lees BROKEBACK MOUNTAIN handeln von nichts anderem als der Suche nach der Liebe, die in dieser Weite schwerer zu finden ist als ein Klumpen Gold - und plötzlich ist Amerika wieder die Kulisse, in der sich Träume verbergen. Auch Walter Salles kam von außen und lieferte mit DARK WATER einen der zwei schönsten Horrorfilme dieses Jahres ab. Das Grauen braucht nichts Übernatürliches, sondern steckt in der Großstadt als Gebilde. Wie auch im anderen Horrorjuwel THE DESCENT von Neil Marshall ging es um das Kämpfen und Scheitern großer Frauen, was bemerkenswert ist, denn entweder sind die Männer inzwischen zu schwach und korrumpiert für die Herausforderungen des Bösen oder man hat immer noch mehr Mitleid mit den weiblichen Helden.
Dafür hat ein anderer Film, den man gar nicht genug schimpfen konnte heuer, DER KÖNIG VON NARNIA, mit Tilda Swinton die tollste Bösefrau überhaupt. Wie gern hätte man den debilen Löwen mit seinen bescheuerten Kindsoldaten ihr unterliegen sehen.
In Deutschland gab es mit NETTO, dem Spielfilmdebüt von Robert Thalheim, und WILLENBROCK von Andreas Dresen zwei glänzend traurige Ostfilme. Und wenn das der wahre Grund der Wiedervereinigung war, solche Filme möglich zu machen, dann hätte sie sich schon gelohnt.

Willibald Spatz
27. Dezember 2005

artechock.de

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